Tribunal der Gutmeinenden 02.10.2010 | 18:13 | von Thea Dorn (Die Presse) Thilo Sarrazin regt weiter auf. Aber seine Fans sind nicht getrieben von der Sehnsucht nach Blut und Boden, sondern nach kernigen, unangepassten Figuren, die sagen, was sie meinen. Ein Plädoyer für Meinungsfreiheit und gegen den verlogenen Kuschelsound der heutigen Politik. Martin Luther hätte schlechte Karten, wollte er sich in diesem Herbst um den vakanten Posten des Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland bewerben. Ein wachsamer Chronist hätte sich erinnert, dass der Reformator bei einer seiner Tischreden gesagt hat: „Armut ist in der Stadt groß, aber die Faulheit viel größer.“ Am nächsten Tag hätte der Satz in allen Zeitungen gestanden, ein Empörungschoral wäre aufgebrandet mit dem Cantus firmus: Tief betroffen vernehm' ich solch menschenverachtend' Wort. Die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten hätten den Unruhestifter zum spätabendlichen Tribunal geladen. Um die Sache gleich umfassend zu klären, hätte neben dem Moderator nicht nur eine prominente Grünen-Politikerin gesessen, sondern auch eine der Herausgeberinnen der „Bibel in gerechter Sprache“, die Luther vorgehalten hätte, welch abscheulicher Sexist er sei. Der Vertreter des Zentralrats der Juden hätte abgesagt mit dem Hinweis, er ertrage es nicht, sich mit einem ausgewiesenen Antisemiten an einen Tisch zu setzen. Stattdessen hätte die Redaktion einen Gast muslimischen Glaubens hinzu gebeten, der Luther als Türkenhasser und Kreuzzügler entlarvt hätte. Eine alleinerziehende Mutter (Hartz IV, protestantisch, engagiertes Kirchenmitglied, überlegt jetzt auszutreten) wäre in dem Gefecht wahrscheinlich nicht zu Wort gekommen, hätte aber die ganze Zeit auf ihrem Betroffenenstühlchen gesessen, und die Regie hätte sie uns oft im Bild gezeigt. Der Polterer selbst hätte das Fernsehstudio kaum verlassen, ohne seine Ankläger mindestens einmal als „Hure“, „Rotzlöffel“ oder „Schwein aus der Herde Epikurs“ bezeichnet zu haben. Binnen eines Tages wäre Martin Luther als Kandidat für den Ratsvorsitz der Evangelischen Kirche in Deutschland erledigt gewesen. Nein, Thilo Sarrazin ist nicht der Luther des frühen 21. Jahrhunderts. Dafür sind seine Thesen zu wenig neu und radikal, dafür ist er im Auftritt nicht grob genug. Umso deutlicher beweisen die Vorgänge der letzten Wochen, wie empfindlich die politisch-medialen Nerven sind, wenn ein öffentlicher Redner das Feld des freundlich Konsensfähigen, des sprachlich Wattierten verlässt – und dass in der Bevölkerung das Bedürfnis nach Figuren wächst, die genau dies wagen. Die Kommentatoren machen es sich zu einfach, wenn sie hinter der Zustimmung, die Sarrazin erfährt, den alten deutschen Mob wittern, der nun dabei sein soll, sich nach 65 Jahren Winterschlaf wieder wach zu räkeln. Es ist nicht die Sehnsucht nach Blut und Boden, die Hunderttausende in die Buchhandlungen treibt und „Deutschland schafft sich ab“ kaufen lässt. Es ist die Sehnsucht nach aufrechten Streitern. Nach kernigen, unangepassten Figuren, die sagen, was sie meinen. Und meinen, was sie sagen. Die bereit sind, ihre Positionen stur zu vertreten und nicht eben mal einen knalligen Provokationsballon aufsteigen lassen, von dem jedem klar ist, dass ihm beim ersten Gegenwind ohnehin die Luft ausgehen wird. Die farblosen, uniformen „Bunten“. Wir haben eine ostdeutsche Kanzlerin, einen Außenminister, der soeben seinen Lebensgefährten geheiratet hat, einen jugendlichen Gesundheitsminister vietnamesischer Herkunft, einen Bundespräsidenten mit „Patchworkfamilie“: Noch nie war das Personal, das unseren politisch-öffentlichen Diskurs bestimmt, „bunter“ als heute. Noch nie wirkte es so farblos, gehemmt und uniform. Die einst gesellschaftlich Marginalisierten sind im Zentrum der Macht angekommen. Dort agieren sie, als wollten sie sich und uns permanent beweisen, dass sie vor allen Dingen eins sind: nichts Besonderes, biederer Durchschnitt, ganz normal. Der Eindruck verstärkt sich, gut geölten Politrobotern beim Funktionieren zuzuschauen. Bisweilen möchte man ihnen an die Brust klopfen und fragen: „Hallo, ist da noch wer zu Hause?“ Politik ist ein seelenloses, technokratisches Geschäft geworden. Begriffe wie „Wachstumsbeschleunigungsgesetz“ und „Bildungs-Chip“ zeugen davon. Um die real existierende Kälte in gefühlte Wärme zu verwandeln, ist es nötig, möglichst viel von „den Menschen“ zu sprechen. Auf deren „Bedürfnisse“ man eingehen wolle. Die man nicht „ausgrenzen“ dürfe, sondern „in die Mitte nehmen“ bzw. „abholen“ müsse. Je weniger unsere Politiker die Leute emotional erreichen, desto menschelnder wird ihr Ton. Der Beifall, den Thilo Sarrazin erhält, ist in erster Linie ein Aufschrei derjenigen, die den verlogenen Kuschelsound nicht mehr ertragen. Deshalb ist es doppelt schockierend zu sehen, wie unfähig unsere politische Klasse ist, dem „Provokateur“ oder „Spalter“ anders zu begegnen als mit noch höheren Dosen eben jenes Lullefix, gegen das der Störenfried zu Felde zieht. Ein Lieblingsvorwurf lautet: Sarrazin differenziere nicht genug. Es sei beleidigend und diskriminierend, alle Muslime in diesem Land über einen Kamm zu scheren und pauschal in Frage zu stellen, dass auch sie einen kulturellen, sozialen und ökonomischen Beitrag zum Gedeihen dieses Landes leisteten. Ich frage mich: Inwiefern differenzieren die Gutmeinenden, die uns seit Jahren quer durch alle Parteien vorbeten, Deutschlands Öffnung hin zu einer „bunten Republik“ stelle eine „Bereicherung“ dar? Ist dieser Satz, der bis vor kurzem auf fast jedem Podium artig beklatscht wurde, nicht ebenso dumm wie sein Gegenteil? Die nüchterne Wahrheit lautet: Manche Einwanderer bereichern dieses Land. Andere tragen zu seiner Verarmung und Verwahrlosung bei. Die größte Gruppe macht ihren Job, lebt hier ein unauffälliges, unspektakuläres Leben. Wir freuen uns, dass es so ist. Aber was, außer dem herzerhebenden Gefühl, ein guter Mensch zu sein, wird gewonnen, wenn der offizielle Diskurs darauf besteht, das höchst komplexe Gesamtphänomen Einwanderung uns pauschal als „Bereicherung“ zu verkaufen? Um eine täglich unübersichtlicher werdende Wirklichkeit in den Blick und vielleicht auch in den Griff zu bekommen, ist der Euphemismus das noch ungeeignetere Mittel als die Polemik. Dennoch genießt der Euphemist uneingeschränkt den Schutz der Meinungsfreiheit. Der Polemiker hingegen riskiert ein Verfahren wegen Volksverhetzung. Als Sarrazin sich im vergangenen Herbst in seinem berüchtigten Lettre-Interview über die „Kopftuchmädchen“ ausließ, nahm die Staatsanwaltschaft Berlin Ermittlungen gegen ihn wegen des Anfangsverdachts auf Volksverhetzung auf. Das Verfahren wurde eingestellt. Nach Erscheinen seines Buches haben der Vorsitzende der Türkisch-Deutschen Unternehmervereinigung Berlin-Brandenburg und mehrere Anwälte abermals Strafanzeige gegen den Autor erstattet. Die Bundeskanzlerin dürfte darin nichts sehen, das eine Demokratin beunruhigen sollte, im Gegenteil, hat sie doch selbst das inkriminierte Werk, von dem sie zugibt, es nicht gelesen zu haben, noch vor dessen Erscheinen als „wenig hilfreich“ abgekanzelt und in einem Interview der Frankfurter Allgemeine Zeitung vor knapp zwei Wochen bestätigt, dass es nicht nötig sei, das Buch zu lesen, um sich ein finales Urteil darüber zu bilden. Welch kurzsichtiges Verständnis von Meinungsfreiheit drückt sich hier aus, wenn Angela Merkel es sich nicht nehmen lässt, im selben Zeitraum die Festrede bei der Verleihung eines deutschen Medienpreises an den dänischen Karikaturisten Kurt Westergaard zu halten, der seit seiner Mohammed-Zeichnung von Islamisten mit dem Tod bedroht wird? Der Bundeskanzlerin scheint die schale Ironie zu entgehen, die sich ergibt, wenn sie Kurt Westergaard bescheinigt, er müsse solche Karikaturen zeichnen dürfen, „egal ob wir sie für nötig und hilfreich halten oder eben nicht“, und bei ihrer Festrede als „Geheimnis der Freiheit“ den „Mut“ preist. Ist Meinungsfreiheit erst dort in Gefahr, wo unliebsame Autoren und Künstler mit dem Tod bedroht bzw. tatsächlich attackiert werden? Lässt sich in einem demokratisch triftigen Sinne von Meinungsfreiheit reden, wenn das unausgesprochene Gesetz lautet: Natürlich darf bei uns jeder offen seine Meinung sagen – nur soll er, bitte, nicht glauben, er könne dann noch ein relevantes öffentliches Amt bekleiden oder anstreben? Es ist wohl Merkmal aller etablierten Machtsysteme, dass sie diejenigen in die obersten Positionen spülen, die sich auf dem Weg dorthin haben kieselrund schleifen lassen. In totalitären Systemen werden die Charaktere mit Ecken und Kanten gleich abgeholt – und zwar nicht in der neuen philanthropischen Bedeutung des Wortes. In einer demokratisch verfassten Gesellschaft wie der unseren duldet man sie als Hofnarren. „Respekt“ ohne Selbstrespekt. Ernüchtert stellt man fest, dass auch die Demokratie den Opportunismus, das Duckmäusertum befördert. Gewiss: Dem Abweichler drohen hier weder Gefängnis noch Folter noch Tod. Sondern der Karriereknick. Es ist übertrieben, auf Sarrazin, den sein Buch nicht den Kopf, sondern seinen Job als Bundesbanker kostete, das große Wort „Märtyrer“ anzuwenden. Die vielen, die am privaten Stammtisch ebenso reden wie er und flugs auf Rechtschaffenheitsrhetorik umschalten, sobald ein Mikrofon angeht, darf man jedoch getrost Feiglinge nennen. Solange es renommierte Publikumsverlage gibt, die ein Buch wie das von Sarrazin drucken, solange es Veranstalter gibt, die den Autor einladen, solange es also eine wache und offene Zivilgesellschaft gibt, muss man der Meinungsfreiheit in Deutschland noch keine Kerze anzünden. Politische Versuche, die Meinungsfreiheit einzuschränken, wie der Vorstoß der niedersächsischen Sozialministerin Aygül Özkan, die im vergangenen Sommer die Medienvertreter ihres Landes darauf verpflichten wollte, über „Sachverhalte und Herausforderungen der Integration“ künftig nur noch in „kultursensibler Sprache“ zu berichten, scheitern bislang an ihrer Unbeholfenheit. Die Frage ist bloß, wohin dieses Land driftet, wenn sich die Kluft zwischen der Zivilgesellschaft und der politischen Klasse weiter öffnet. Ein humanistisch gebildeter Berserker wie Franz Josef Strauß würde es heute allenfalls zum Bezirksbürgermeister von München-Maxvorstadt bringen. Politiker, an denen man sich stoßen, reiben kann, die man tief liebt oder aus ganzer Seele hasst, sind von der Bühne verschwunden. Das heutige politische Personal lädt sein Wahlvolk dazu ein, sich mit ihm möglichst kollisionsfrei zu arrangieren. Der öffentliche Diskurs ruckelt quietschend vor sich hin, wie soll es auch anders sein, wenn zum guten Ton gehört, nur noch mit taktisch angezogener Handbremse zu reden. Freundlichkeit, Behutsamkeit, auch im sprachlichen Miteinander, können eine Gesellschaft vitalisieren, Kräfte freisetzen. Ebenso gut können sie das Mäntelchen sein, mit dem die eigene Orientierungslosigkeit kaschiert wird. „Respekt“ ohne Selbstrespekt ist entweder eine hilflose oder eine verlogene Geste. Im politisch korrekten Sprechen und Lavieren drückt sich die Hoffnung aus, das individuelle Seelenheil zu retten, indem man öffentlich so tut, als ob man allen Stolz hätte fahren lassen. 2017 feiern wir den fünfhundertsten Jahrestag des lutherschen Thesenanschlags zu Wittenberg. Es schadet nichts, sich heute schon an seine 32. These zu erinnern: „Die werden samt ihren Meistern in die ewige Verdammnis fahren, die da vermeinen, durch Ablassbriefe ihrer Seligkeit gewiss zu sein.“
Thea Dorn Dorn ist Autorin erfolgreicher Theaterstücke (z.B. „Marleni“ über Marlene Dietrich und Leni Riefenstahl, Uraufführung am Hamburger Schauspielhaus, 2000) und moderiert die Sendung „Literatur im Foyer“ des SWR sowie in ARTE die Talkshow „Paris-Berlin“. Thea Dorn, die ihr Pseudonym in Anlehnung an Theodor W. Adorno gewählt hat, versteht sich als agnostische Humanistin.
Der Artikel, den Thea Dorn freundlicherweise der „Presse“ zur
Verfügung gestellt hat, ist auch in der „Zeit“ vom 30. 9.
erschienen. ("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.10.2010) http://diepresse.com/home/meinung/debatte/599222/index.do |